Marina Naprushkina: Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen
Gastbeitrag von Sven Röder
Mit Flüchtlingskindern um 9 Uhr zum Arzt, einige Stunden auf Behandlung warten, danach zurück ins Heim, dort den Umzug in einen größeren Raum organisieren, dann zwei Stunden Unterricht mit den Kids, danach noch ein Kind zum Karateunterricht bringen– so beschreibt Marina Naprushkina in ihrem Buch einen Tag aus ihrem 2013 gegründeten Flüchtlingshilfeprojekt »Neue Nachbarschaft/Moabit«. Es liefert anhand von Erfahrungsberichten und aufgeschriebenen Dialogen und Situationen einen teils sehr intimen Einblick in den Alltag der Geflüchteten, die sich nach den Strapazen der Flucht statt des erhofften besseren Lebens mit der Sturheit der Ämter, Anwalts- und Arztbesuchen konfrontiert sehen– und das in einer Kultur, die ihnen oft ebenso fremd ist wie die Sprache. Neben kleinen Illustrationen sind immer wieder Kapitel eingestreut, in denen Naprushkina den Fortschritt und die Organisation, aber auch eigene Gedanken zum Projekt, reflektiert. Neben dem Belegen von Defiziten und Missständen in der Flüchtlingspolitik zeigt das Buch auch echte Menschlichkeit zwischen Menschen, die sich auf Augenhöhe begegnen, sich gegenseitig helfen und voneinander lernen. „Das Buch ist ein Lehrbuch für Menschlichkeit«, so Heribert Prantl in seinem Vorwort zum Buch, und dabei ist es eben „nicht sentimental, es ist nicht kitschig, es romantisiert nicht. Es ist nüchtern. Es zeigt die wenigen guten und die vielen schlechten Seiten der Flüchtlingsbürokratie«.
Eigentlich ist Marina Naprushkina Künstlerin und keine Sozialarbeiterin, sondern stellt auf internationalen Ausstellungen aus. Doch für sie fließen Kunst und soziales bzw. politisches Engagement ineinander. Die gebürtige Weißrussin ist vor allem für ihr 2007 begründetes »Büro für Anti-Propaganda« bekannt, ein langfristig angelegtes Forschungs- und Dokumentationsprojekt, das sich mit Macht- und Manipulationsstrukturen, besonders in ihrer Heimat Weißrussland, beschäftigt und Alternativmodelle anstoßen möchte. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen im Ausland für die Demokratisierung Weißrusslands. Nach einem Besuch in einem Flüchtlingswohnheim in Berlin-Moabit entschloss sich die Künstlerin selbst Initiative zu ergreifen und gründete die ehrenamtliche Hilfsorganisation »Neue Nachbarschaft/Moabit«. Hier können sich die Geflüchteten austauschen, erhalten Unterstützung bei Problemen und es werden ein Deutschstammtisch, Kinderbetreuung, Sport- und Kunstkurse angeboten. Die aus letzterem entandenen Drucke kann man teilweise in der aktuellen Ausstellung »Räume sozialer Produktion« in der HALLE 14 betrachten. Fotos und Schriftstücke mit und von geflüchteten Kindern sind dort zu sehen, außerdem ein paar Auszüge aus dem Buch. Mittels jener kollektiv entwickelten Kunstdokumentation möchte Naprushkina die Menschen auf die derzeitige Situation der geflüchteten aufmerksam machen.
Marina Naprushkina: Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen, Europaverlag Berlin 2015
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Sven Röder ist Student der Soziologie und Medienwissenschaft. Von Oktober 2017 bis Januar 2018 war er Praktikant der HALLE 14 im Bereich kuratorische Praxis.